Die Bibel beten
Papst Franziskus fragte einmal beim Angelus: „Was wäre, wenn wir immer eine Taschenausgabe des Evangeliums bei uns hätten, wie unser Handy? Was würde geschehen, wenn wir die Bibel genauso behandeln wie unser Handy? Wenn wir umkehren, um sie zu holen, weil wir sie zu Hause haben liegen lassen, wenn wir sie mehrmals am Tag zur Hand nehmen, wenn wir die Botschaften Gottes in der Bibel lesen, wie wir die Botschaften auf dem Handy lesen?“
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) gilt als Reformkonzil. Eine wichtige Erneuerung galt dem Gottesdienst. Seither haben wir in den Sonntagsgottesdiensten zwei Lesungen, eine aus dem Alten Testament, eine aus dem Neuen Testament, und das Evangelium. Der „Tisch der Wortes Gottes“ wurde reicher gedeckt. Zum Altar gesellte sich nun der Ambo, wo das Wort Gottes gelesen wird. Ein deutliches Zeichen! Eine andere Reform war der Appell an die Gläubigen, in der Bibel zu lesen, um sich so die „alles übertreffende Erkenntnis Jesu Christi“ (Philipper 3,8) anzueignen. Viele Christen bemühen sich eifrig darum.
Eine wiederentdeckte Weise, die Bibel zu lesen, ist die lectio divina, die „heilige Lesung“. Die lectio divina ist eine Methode, die Bibel zu beten. Der Kartäusermönch Guigo hat dafür um 1150 eine Anleitung geschrieben. Die lectio divina hat vier Schritte, die eher vier Ebenen sind, die einander abwechseln:
lectio – meditatio – oratio – contemplatio. Lesung – Betrachtung – Gebet – Beschauung.
- Wir beginnen mit der lectio. Ich nehme den ausgewählten Bibeltext und lese ihn. Am besten laut, zweimal, dreimal.
- In der meditatio bleibe ich an einem Vers oder einem Wort hängen, das mich anspricht. Ich wiederhole es immer wieder. Meditation bedeutete für die alten Mönche einfach wiederholen, wiederholen, auswendig lernen. Dabei kommt mir in den Sinn, was diese Verse für mein eigenes Leben bedeuten.
- In der oratio bete ich zu Gott. Ich danke ihm, ich preise ihn, ich bitte ihn um etwas. Und manchmal klage ich halt auch.
- Unter contemplatio können wir das einfache Verweilen vor Gott verstehen. Das Lesen seines Wortes, das Hören, Wiederholen, Bedenken und Beten führen in die Gemeinschaft mit Gott. Ich kann ihm mein ganzes Leben hinhalten. Ich kann ihn mit Liedern lobpreisen. Und manchmal erlebe ich dabei ein tiefes, ein inneres Gefühl des Glücks. Aber das kann ich nicht machen. Es ist sein Geschenk.
Die lectio divina ist kein Lesen der Bibel, das sich mit den Fragen und Schwierigkeiten eines Textes herumplagt. Das ist dann eher das Schriftstudium, bei dem ich einen biblischen Kommentar lese. Bei der lectio divina lasse ich mich vom Wort der Bibel ansprechen. Und dabei kann ich erfahren, dass Gott mich anspricht.
Als Bibeltext empfiehlt sich das Evangelium der Sonntagsmesse. Bevor ich beginne, lege ich fest, wie viel Zeit ich mir für die lectio divina nehme. Manchmal nur 10 Minuten. Später vielleicht sogar 45 Minuten. Es braucht auch ein wenig Geduld. Aber Gott lohnt es den Geduldigen! Dann suche ich noch einen ruhigen Ort, wo ich für die Zeit der lectio ungestört bin.
Wer es gerne etwas „intellektueller“ mag, kann sich bei den ersten drei Schritten der folgenden Fragen bedienen:
- Lectio: Was sagt der Text? Worum geht es?
- Meditatio: Was sagt der Text mir?
- Oratio: Was antworte ich Gott, der durch den Text zu mir spricht
Ich selber habe die Methode durch die Bücher von Kardinal Carlo Maria Martini gelernt, der sie auch mit Tausenden von jungen Menschen im Mailänder Dom und in seiner Diözese durchgeführt hat. Papst Johannes Paul II, Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus kommen immer wieder auf die lectio divina zu sprechen und empfehlen sie den Gläubigen. In meinem Dienst als Pfarrer war und ist es mir immer wichtig, auf diese einfache Weise, die Bibel zu lesen und mit Gott uns Gespräch zu kommen, hinzuweisen. Für die Sonntagsevangelien biete ich eine einfache Anregung zur lectio divina an, die sich hier auf der Homepage und in der Kirche St. Pelagius und St. Ulrich finden lässt.
Ich hoffe, dass ich Ihnen und Euch mit diesen Zeilen eine Anregung und eine Hilfe geben kann für das geistliche Leben, und freue mich natürlich, wenn ich von Ihren und Euren Erfahrungen mit der lectio divina höre.
Ihr Pfarrer Thomas Böbel – Thomas.Boebel@drs.de
Quellen:
Fabian Brand, Schwarzbrot des Glaubens. Ein Plädoyer für die Entdeckung der geistlichen
Schriftlesung. In: Die Tagespost. 26.04.2018.
Edgar Friedmann OSB, Die Bibel beten. Lectio divina heute. 3. Auflage 2013. Vier-Türme-
Verlag Münsterschwarzach.